„Ohne die Pillen funktioniert mein Leben nicht!“
Ich heiße Anke, 46 Jahre, geschieden und lebe mit meiner Tochter (15 Jahre) und meinem Sohn (13 Jahre) in einer Mietwohnung. Ich arbeite in der Altenpflege in Vollzeit und auch im Nachtdienst, sonst würde das Geld nicht reichen. Nach einer Bandscheiben-OP vor drei Jahren nehme ich regelmäßig Opioid haltige Schmerzmittel, vor allem Oxycodon und nach mehrfachen Panikattacken im letzten Jahr auch Beruhigungsmittel, also Tavor, um genau zu sein. Ich will davon loskommen und bin jetzt erst einmal in die Selbsthilfegruppe gegangen, um zu hören, was die mir raten.
Abhängig von Medikamenten?
Medikamente nehmen Menschen in der Regel dann ein, wenn sie unter bestimmten körperlichen und / oder psychischen Beschwerden leiden. In Deutschland gibt es apothekenpflichtige Medikamente, die nicht von Ärzt*innen verschrieben werden müssen, sondern die man frei in Apotheken kaufen kann. Dann gibt es rezeptpflichtige Medikamente, die man nur durch eine Verschreibung von Ärzt*innen bekommen kann. Medikamente, bei denen ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Abhängigkeit besteht, fallen unter das Betäubungsmittelgesetz und können nur über besondere Rezepte verordnet werden.
Zu den Arzneimitteln, bei denen die Gefahr besteht, dass sie länger als notwendig und in höherer Dosierung eingenommen werden oder eine Abhängigkeit entsteht, gehören
- Schlaf- und Beruhigungsmittel (z. B. Benzodiazepine)
- Schmerzmittel (insbesondere Opioid haltige Schmerzmittel)
- Anregungsmittel (Stimulanzien)
(DHS 2020: 12)*
Auch „Cannabis“ kann in besonders begründeten Fällen von Ärzt*innen als Medikament verschrieben werden.
Wirkung
Im Gegensatz zu Alkohol, der je nach Situation und Dosierung auch unterschiedliche Wirkung haben kann, haben Medikamente sehr spezifische Wirkungen. Sie erleichtern das Einschlafen, vermindern das Schmerzerleben, wirken beruhigend und entspannend oder steigern die Konzentrationsfähigkeit oder heben die Stimmung. Zentral wirksame Schmerzmitteln auf Opioidbasis wirken auf der Ebene des Gehirns und des Rückenmarks, sie können Schmerzen lindern und euphorisieren oder eine angenehme Gleichgültigkeit erzeugen. Es sind die unmittelbar positiven Wirkungen, welche die kontinuierliche oder situationsabhängige Einnahme begünstigen. Das Nachlassen der Wirkung kann dann zum Auslöser für den weiteren Konsum werden. (DHS 2020: 23)*
Von der Einnahme zum schädlichen Gebrauch
Der Übergang vom bestimmungsgemäßen Gebrauch zum „Übergebrauch“ und „Fehlgebrauch“ kann sich sehr schnell entwickeln. Bei manchen Medikamenten – vor allem bei Schlaf- und Beruhigungsmitteln – entwickelt sich eine Abhängigkeit sehr schnell. Die funktionale Gesundheit kann beeinträchtigt werden, sodass es den Betroffenen zunehmend schwerer fällt, den Anforderungen des Alltags sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich gerecht zu werden. Dann wird die Medikamenteneinnahme häufig noch gesteigert in der Hoffnung, dass dann alles wieder leichter und lösbarer wird. Oder es werden zusätzliche (abhängigkeitserzeugende) Medikamente eingenommen, um die „unerwünschten“ Wirkungen und Konsequenzen abzumildern. Die Einnahme von Medikamenten wird oft gar nicht als problematisch empfunden. Auch die langjährige Einnahme von Antidepressiva kann zu einem schädlichen Gebrauch werden.
Die Einnahme von Schlaf- und Beruhigungsmitteln sowie von Opioid haltigen Schmerzmitteln kann die Fahrtüchtigkeit, das Bedienen von Maschinen und die Arbeitsfähigkeit (erheblich) beeinträchtigen und somit das Unfallrisiko deutlich erhöhen. (DHS 2020: 24)*
Abhängigkeit
Die Diagnose einer Medikamentenabhängigkeit wird dann gestellt, wenn drei oder mehr der folgenden sechs Kriterien während der letzten zwölf Monate gleichzeitig erfüllt waren:
- Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, das Medikament einzunehmen.
- Verminderte Fähigkeit den Beginn, das Ende und die Menge der Medikamenteneinnahme zu kontrollieren.
- Körperliches Entzugssyndrom beim Absetzen oder Reduzieren der Einnahme mit arzneimitteltypischen Entzugssymptomen oder Einnahme anderer Substanzen (z. B. andere Arzneimittel, Alkohol) zur Linderung oder Vermeidung von Entzugssymptomen.
- Wirkungsverlust und Toleranzentwicklung, sodass höhere Dosen erforderlich sind, um die ursprüngliche Wirkung zu erzielen.
- (Fortschreitende) Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten der (ungestörten) Medikamenteneinnahme (Beispiel: Der Patient bleibt lieber zu Hause, als auszugehen) oder Vernachlässigung anderer Interessen wegen erhöhten Zeitaufwands, die Substanz zu beschaffen (z. B. durch den Besuch verschiedener Ärzte) oder für die Erholung von den Folgen der Einnahme.
- Anhaltende Medikamenteneinnahme trotz Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen. (DHS 2018:14)*
Folgen des schädlichen Gebrauchs oder der Abhängigkeit
Abhängigkeitserzeugende Medikamente verändern die Befindlichkeit des Menschen. Die Symptomatik, die der Grund für die Einnahme gewesen ist, kann sich sogar verstärken. Es kommt zu Beeinträchtigungen der Konzentrations-, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistungen sowie zu dauerhaften Beeinträchtigungen der körperlichen und psychischen Gesundheit. Beim Absetzen können langanhaltende und schwerwiegende Entzugserscheinungen auftreten.
Der Ausstieg
Das Absetzen der Medikamente sollte unter ärztlicher Aufsicht erfolgen. Häufig ist eine (qualifizierte) stationäre Entzugsbehandlung nötig, die zumeist in psychiatrischen Abteilungen oder Kliniken durchgeführt wird. Zur weiteren Stabilisierung sind ambulante oder stationäre Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation sinnvoll. Auch eine ambulante Psychotherapie kann nötig werden. Die Sucht-Selbsthilfe unterstützt den Ausstiegsprozess nachhaltig und steht „unbefristet“ zur Verfügung.
Wie kann ich mehr über die Abhängigkeit von Medikamenten erfahren?
Viel Wissenswertes rund um die Abhängigkeit von Medikamenten haben wir in unserer BKE Suchbroschüre zusammengestellt.
Du kannst sie hier als PDF herunterladen ...
Wer hilft mir bei Abhängigkeit von Medikamenten?
Unsere Selbsthilfegruppen vor Ort
Rechte Spalte unter "In deiner Nähe" die PLZ oder Ort eingeben und deine Gruppe finden.
Das BKE kann auf eine langjährige Erfahrung im Umgang mit Sucht und deren Überwindung zurückblicken. So ist jede unserer Gruppen vor Ort kompetent besetzt.
*Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) (Hrsg.), “Medikamentenabhängigkeit - Informationen und Hilfen“; 2. Auflage; Hamm 2018
Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) (Hrsg.), “Medikamentenabhängigkeit – Suchtmedizinische Grundreihe, Band 5.“ Hamm 2020